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Porträt

Magie der Gummimischungen

Die Mischung machts – der Bereich der Gummimischungen ist in der Reifenentwicklung der wohl undurchsichtigste, gleichzeitig aber auch der Bereich, in dem hinsichtlich der Produktqualität die größten Entwicklungssprünge zu erwarten sind. Ein Reifen kann aus mehr als zehn Gummimischungen bestehen – das Mischungsverhältnis bestimmt die Qualität. Die Redaktion hat mit den F&E-Verantwortlichen der wichtigsten Reifenhersteller über die Herausforderungen und Chancen gesprochen.

Wie schafft man ein optimales Zusammenwirken von Materialien, Konstruktion und Gummimischung? Welche Unterschiede existieren im Bereich der Mischungen bei Sommer- und Winterreifen? Wie werden subjektive Testeindrücke in Entscheidungsprozesse hinsichtlich der Entwicklung einer Gummimischung übersetzt? Diese und weitere Fragen beleuchten wir in unserem Feature zu Gummimischungen.

In der Reifenentwicklung gilt es stets Zielkonflikte auszutarieren. Wichtig ist das Zusammenwirken von Materialien, Konstruktion und Gummimischungen. Gibt es einen bestimmten Punkt in der Entwicklung an einem neuen Reifenmodell, an dem Ihre Arbeit „Fahrt aufnimmt“ oder muss man sich Ihre Arbeit eher als generell fortlaufenden Prozess mit einzelnen sich verdichtenden Entwicklungsphasen vorstellen?

Thomas Hanel, Head of Innovative Materials, R&D - Material Development, Pirelli Tyre S.p.A.:

Unsere Entwicklungsarbeit lässt sich grundsätzlich in zwei verschiedene Herangehensweisen unterteilen. Einerseits gibt es die Produktentwicklungen, die sich iterativ auf eine bereits existierende Basis beziehen und gezielt von Kunden geforderte Performancemerkmale angehen und verbessern. In diesem Fall werden Einzelkomponenten des Reifens in den Entwicklungsprozess einbezogen und schnell und flexibel Lösungen erarbeitet. Der Effekt hinsichtlich der Lösung von Zielkonflikten ist hier allerdings von vorneherein limitiert.

Daneben erfolgt die wichtige und kontinuierlich fortlaufende Basisentwicklung - und Forschung -, die sich mit völlig neuen und innovativen Ansätzen der Struktur- und Materialentwicklung auseinandersetzt. Diese Entwicklungen laufen teilweise in Kooperation mit dem Kunden, im Rahmen von sogenannten Vorentwicklungsprojekten, in Zusammenarbeit mit Universitäten, mit Lieferanten in Entwicklungskooperationen oder auch als interne Studien. In dieser Phase ist die Arbeit noch nicht auf ein konkretes Produkt fokussiert, sondern soll Lösungen generieren. Im Idealfall sind diesem Lösungen expandierbar, also übertragbar auf zahlreiche Produkte, manchmal auch über Plattformen hinweg. Wie zum Beispiel die Versatility-Technologie, die bei Pirelli Einzug in die Produkte der verschiedenen Business Units Car, Moto und Truck gefunden hat.

Diese Herangehensweise erlaubt es uns in relativ regelmäßigen Zeitabständen die Ergebnisse der Basisentwicklungen in den Standardentwicklungsprozess einfließen zu lassen und regelrechte „Quantensprünge“ zu erreichen, die Zielkonflikte durchbrechen.

Eckhard Kuhlmann, Chief Engineer Test Team Hankook Tire Europe Technical Center:

In dem Moment, in dem ein neuer Auftrag für einen bestimmten Kunden zur Entwicklung eines neuen Reifens eingeht, müssen wir sofort Fahrt aufnehmen. Es gilt von vornherein die richtige Richtung für die Entwicklung einzuschlagen. Für das Ersatzgeschäft gibt der Markt und Gesetzgeber die Vorgaben. Für die Erstausrüstung müssen zusätzlich die kundenspezifischen Anforderungen in Betracht gezogen werden, wie auch die technischen Eigenschaften des neuen Fahrzeugtyps.

Einen riesigen Sprung in der Produktqualität gab es vor vielen Jahren durch die Einführung und Verwendung von Silika. Sind ähnliche Qualitätssprünge durch neue Komponenten in den nächsten Jahren zu erwarten? Wo sehen Sie noch Potenziale?

Thomas Hanel (Pirelli):

Durch die Einführung der Kieselsäure hat sich nicht nur ein großer Fortschritt in der Performance ergeben, sondern auch die Notwendigkeit die Mischungszusammensetzung und die Prozesse der Mischungsherstellung, Halbzeugfertigung und Vulkanisation grundlegend zu verändern und teilweise sogar neu zu entwickeln.

Bis heute existiert ein immenser Entwicklungsbedarf im Bereich der Kieselsäurenutzung. Sowohl auf Lieferantenseite als auch an Universitäten werden immer neue Erkenntnisse generiert, wie man die Nutzung der Kieselsäure weiter optimieren und auch vielseitiger einsetzen kann.

Ähnlich große Sprünge erwarten wir zukünftig von neuartigen Polymersystemen und Nano-Füllstoffen, auf natürlicher Basis oder synthetisch hergestellt. Viele dieser Aktivitäten befinden sich im Stadium der Forschung und Entwicklung, und werden Schritt für Schritt Einzug in unsere Produkte im industriellen Maßstab halten. Im Rahmen dieser Forschungen fokussieren wir uns vor allem auf die Bereiche Performance/Versatility, Sustainability und HSE-Aspekte, also Health Safety und Environment.

Eckhard Kuhlmann (Hankook):

Sicherlich stellte die Einführung der Silica-Technologie einen gewaltigen Quantensprung bezüglich der Schere Nassgriff / Rollwiderstand dar. Nun darf man aber auch nicht vergessen, dass es alles in allem, von den ersten Versuchen mit Silica bis zur Serienreife so ungefähr 30 Jahre gedauert hat. Die Chemiker sind jetzt dabei, maßgeschneiderte Polymermoleküle „zusammenzubauen“. Wenn jedes Jahr durch diese kleinen Innovationen kleine Fortschritte gemacht werden können, werden wir mit Sicherheit in 30 Jahren Reifen haben, die wir mit den heutigen nicht mehr vergleichen können.

Dr. Holger Lange, Leiter der Winterreifenentwicklung Continental:

Hier muss ich enttäuschen – derzeit sehen wir kein Material in der Entwicklung, das einen ähnlichen Sprung verspricht wie in der „Silica-Revolution“. Die Entwicklung erfolgt eher in Evolutionsstufen, die hier ein Prozent mehr an Leistung, dort drei und manchmal sogar 20 Prozent.

Matthias Bode, Manager Global Materials Science, Goodyear Innovation Center Luxemburg:

In der Mischungsentwicklung werden ständig neue Materialien evaluiert und das Potential in Mischungen erprobt. In den letzten Jahren, speziell durch die Einführung des EU-Reifenlabels, sind erhebliche Fortschritte in Bezug auf den Kompromiss zwischen Rollwiderstand und Nassgriff gemacht worden. Nicht zuletzt dadurch, dass Materiallieferanten und die Reifenindustrie diese Herausforderung angenommen haben und in Zusammenarbeit neue Materialien entwickelt wurden, die vorher so nicht angedacht waren.

Letztendlich kann man unsere, heute schon in großen Volumen industrialisierten B/A-Reifen von Goodyear und Dunlop als einen Sprung beschreiben. Was hier was in einer Entwicklungszeit von nur 2 Jahren dargestellt wurde, wäre ohne neue Materialien und Prozesse in einem Zeitraum von möglicherweise 10 Jahren durch Evolution erreicht worden.

Die Materialentwicklung ist ein kontinuierlicher Prozess, neue Anforderungsprofile erfordern neue Technologien, die wir gemeinsam mit unseren Lieferanten und intern entwickeln. Es gibt hier noch erhebliche Potentiale, die Zielkonflikte in der Reifenentwicklung zu optimieren. (kle)

Lesen Sie die vollständige Interviewstrecke mit Dr. Holger Lange (Leiter der Winterreifenentwicklung von Continental), Thomas Hanel (Head of Innovative Materials, R&D - Material Development, Pirelli Tyre S.p.A.), Eckhard Kuhlmann (Chief Engineer Test Team Hankook Tire Europe Technical Center) und Matthias Bode (Manager Global Materials Science, Goodyear Innovation Center Luxemburg) in der Print-Ausgabe von AutoRäderReifen-Gummibereifung.

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