Eine große silberne Metallglocke stülpt sich in einer Industriehalle im Norden Münchens über ein liegendes, kurz zuvor montiertes Komplettrad. Nach etwa 30 Sekunden hebt sich eine der zwei sogenannten Befüllglocken Inflatoren wieder und lässt in einer aus Sicherheitsgründen abgetrennten Kammer der Montagestraße überflüssige kompressierte Luft, als Dampf aufsteigen. Das entstehende Lkw-Komplettrad misst nach dieser Druckbefüllung über die Seitenwand rund neun Bar und gleitet weiter zur nächsten Station. Der Aufpumpvorgang via Ventil würde dagegen mehrere Minuten in Anspruch nehmen und gehörig bremsen, heißt es beim Besuch der Ende 2018 in Betrieb gegangenen automatischen Komplettrad-Montagestraße von MAN. Je nach Reifengröße fügen die Befüllungsglocken in einem redundanten System unterschiedliche Luftvolumina zu, wie Christoph Gillitzer erklärt. Nach den Worten des Leiters Logistics Solutions bei der MAN Truck & Bus SE beläuft sich der durchschnittliche Output auf rund 1.200 Kompletträder pro Tag.
Kunden kaufen Komplettpakete
Der Automatisierungsgrad schreitet nicht nur in der Fahrzeugindustrie voran. Auch der Reifenhandel rüstet sich. War die Reifenmontage früher eine Kernkompetenz des Reifenfachhandels, so wird mittlerweile aus Kosten- und Zeitgründen das Reifenmontieren von Reifensätzen gern in spezialisierte Dienstleister ausgelagert. So installierte die Interpneu Handelsgesellschaft mbH eine Komplettrad-Montageanlage in den Sommermonaten 2022. Neben der individuellen Komplettradmontage für Fachhändler und Werkstätten beliefert beispielsweise die Bohnenkamp AG auch Fahrzeughersteller und Importeure. Die Bohnenkamp-Anlage hat eine Bandbreite an Nutzfahrzeugrädern in Dimensionen zwischen 20 bis 54 Zoll – wodurch sich die Taktfrequenz verlangsamt. Die jährliche Fertigung beträgt laut Unternehmensangaben rund 70.000 Großräder über 20 Zoll. Zum Vergleich: Im Foyer des Logistikbereichs in Dachau stellt MAN das 500.000ste Komplettrad aus – gefertigt wurde es im Mai 2020, also bereits eineinhalb Jahre nach Start der Montagestraße.
Neben der Schnelligkeit spricht auch eine bessere Qualität für die Investition: Wolfgang Butsch, Geschäftsführer Interpneu, zufolge lassen sich Abläufe durch die Investition effektiver strukturieren. „Das erlaubt uns, den Output bei steigender Nachfrage in der Saison hochzufahren und gleichzeitig perfekte Arbeit abzuliefern“, wie der Interpneu-Geschäftsführer im vergangenen Jahr zum Start der Montagestraße ausführte. Die Crux liegt in der Programmierung der Anlage. Betreiber stehen hier mit Reifenherstellern in Austausch und holen sich optional Hilfe von Sachverständigen: Michael Immler stand MAN beispielsweise bei Planung, Aufbau und Hochfahren der Anlage beratend zur Seite. Zudem schult der Reifenexperte von der Handwerkskammer Schwaben regelmäßig die Mitarbeiter. Die zahlreichen, gelben Roboterarme der Anlage müssen schließlich wissen, mit welchem Pneu und welcher Felge sie es zu tun haben und welche Krafteinwirkung an den einzelnen Stationen gebraucht wird. Der Aufwand sei zwar enorm gewesen, aber die Maschine kennt mittlerweile nahezu jede Reifengröße sowie -ausführung, weiß der öffentlich bestellte und vereidigte Sachverständige für das Vulkaniseur- und Reifenmechaniker-Handwerk. „Die Anlage verfügt über Sicherheitsparameter, die eine Beschädigung der Reifen bzw. Räder verhindern“, so Immler. Ihm zufolge handelt es sich um einen reproduzierbaren, sicheren Prozess.
Permanente Prüfung
Die Techniker füttern die Systeme der Montagestraße mit Angaben zu Rad-Reifenkombinationen und technischen Informationen. Als wichtige reifenspezifische Informationen für die Montage gibt beispielsweise Michelin „die Steife des Wulstbereichs, die äußere Geometrie sowie die Belastbarkeit der Wulstmischung“ an. Darüber hinaus spielen die Reifendimension sowie gegebenenfalls die Innenkonstruktion eine Rolle, hieß es auf Anfrage.
Vor jeder „Hochzeit“ zwischen Reifen und Felge, wie das Überstülpen des Pneu über das Rad auch genannt wird, steht die Identifizierung der schwarzen Rundlinge. Noch geschieht dies über ein Scannen der DOT-Nummer (so vorhanden). Diesen Einlesevorgang nehmen derzeit noch einzelne MAN-Mitarbeiter vor. Schneller und weniger fehleranfällig ginge es mittels RFID-Technologie. Nicht nur in München warten Anlagenbetreiber auf einen höheren Ausrüstungsgrad der Reifenhersteller mit RFID-Chips, wie es heißt. Auch das leidige Thema Standardisierung spielt laut Francisco Avila von Interpneu, eine Rolle: „Beim Thema RFID müsste zunächst die Reifenindustrie die entsprechenden Daten nach Möglichkeit in einem einheitlichen Format zur Verfügung stellen.“ Ein Einwand, den zumindest Michelin nicht gelten lässt: Von der eigenen Produktion seien 99 Prozent der neuen Lkw-Reifen mit RFID-Chips ausgestattet. Zu den gefunkten Informationen gehören laut Hersteller unter anderem eine Herstellerkennung, die CAI sowie eine eindeutige Identifikationsnummer für die Karkasse.